06.11.2024, 10:55
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Von der Einheit zur Ungewissheit: Die Rolle Deutschlands in Europa nach der Wiedervereinigung

Teheran (IRNA) - Am 3. Oktober wird am Tag der Deutschen Einheit der 34 Jahre zurückliegenden historischen Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland gedacht, die das Land und Europa veränderte.

Von Hussein Pabarja

Die Unterschiede zwischen Ost und West sind jedoch immer noch tief verwurzelt[i] und zeigen sich in politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereichen. Obwohl viele im Osten das Gefühl haben, dass ihre Identität durch westliche Systeme und Ideen in den Hintergrund gedrängt wurde, wird der Fall der Berliner Mauer in der Regel als ein glückliches Ereignis in Erinnerung behalten. Vor allem im Osten, wo rechtsextreme Gruppen wie die AfD ziemlich populär geworden sind, treibt diese Enttäuschung das Aufkommen populistischer Bewegungen voran. Diese inneren Konflikte sind nicht nur ein nationales Problem, sondern wirken sich auch auf die Führungsposition Deutschlands innerhalb der Europäischen Union aus. Einst ein leuchtendes Beispiel für internationale Zusammenarbeit, spiegelt die aktuelle Hinwendung Deutschlands zu einer nationalistischeren Politik - wie die Verschärfung der Einwanderungsbeschränkungen - eine größere europäische Tendenz wider. Angesichts der Position Deutschlands, die die EU-Politik prägt, wirft die wachsende Bedeutung rechtsextremer Bewegungen auf dem gesamten Kontinent Fragen über die Zukunft der europäischen Integration auf. Kritiker behaupten, dass die Hinwendung der Nation zum Nationalismus nicht nur ihre eigene Einheit, sondern auch die grundlegenden Ideale der EU gefährdet und damit einen gefährlichen Präzedenzfall für andere Mitglieder schafft.

Deutschlands Probleme spiegeln allgemeinere EU-Probleme wider, insbesondere die Ost-West-Spaltung. So wie sich die Ostdeutschen vom Westen abgehängt fühlen, haben osteuropäische Länder wie Polen und Ungarn ihre Unzufriedenheit über ihren vermeintlich zweitrangigen Status innerhalb der Union zum Ausdruck gebracht. Deutschlands eigenes Identitätsproblem erfordert sorgfältige Überlegungen darüber, ob die Nation ihre internen Konflikte heilen und gleichzeitig Europa in immer stärker gespaltene Zeiten führen kann. Die Schwere dieser Herausforderung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden; wenn diese grundlegenden Probleme vernachlässigt werden, besteht die Gefahr, dass Europa zersplittert und nicht in der Lage ist, die nächsten Krisen zu bewältigen.

Die unvollendete Geschichte der deutschen Wiedervereinigung: Ein kritischer Blick auf den Westen

Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist die Geschichte der deutschen Einheit[ii] noch immer nicht zu Ende erzählt. Für viele Menschen in der ehemaligen DDR ist die Realität weitaus komplizierter, als der Westen sie als Sieg der Demokratie über den Totalitarismus feiert. Viele fühlten sich eher beschämt als frei, wie die wirtschaftliche Integration Westdeutschlands - insbesondere im Hinblick auf die Zerstörung ostdeutscher Unternehmen durch die Treuhand-Gesellschaft - deutlich machte. Obwohl sich die heutige Infrastruktur im Osten verbessert hat, bestehen das Einkommensgefälle und die sozialen Ungleichheiten zwischen Ost und West weiter, was auf allgemeinere Probleme der Ungleichheit hinweist, die durch wirtschaftliche Veränderungen allein nicht behoben werden konnten.

Darüber hinaus hat der Einigungsprozess die psychologischen und emotionalen Unterschiede zwischen den beiden Gebieten nicht vollständig beseitigt. Ostdeutsche sind in den Spitzenkreisen Westdeutschlands unterrepräsentiert, da Westdeutsche die politischen, finanziellen und medialen Führungspositionen kontrollieren. Für viele im Osten hat diese Ungleichheit zu Verbitterung und einem Restgefühl der Marginalisierung geführt. Die Ostdeutschen identifizieren sich immer noch überwiegend als Ostdeutsche, was von einer tief verwurzelten Identitätsspaltung zeugt, auch wenn die physischen Hindernisse beseitigt wurden.

Die Unfähigkeit, eine gemeinsame Geschichte darüber zu entwickeln, was es bedeutet, Deutscher zu sein, unterstreicht die allgemeinen Mängel der westlichen Methode der Wiedervereinigung. Unter Vernachlässigung der besonderen Erfahrungen des Ostens betrachtete der Westen die Einheit als eine Erweiterung seines politischen und wirtschaftlichen Modells und ging damit über eine Zusammenarbeit zwischen zwei gleichberechtigten Hälften hinaus. Für eine wirkliche Einheit bedarf es mehr als nur materieller und finanzieller Unterstützung, sondern auch der Aufarbeitung der Vergangenheit und der Würdigung der Anstrengungen des Ostens. Solange diese Probleme nicht gelöst sind, wird die deutsche Einheit unvollendet bleiben und die Erfolgsgeschichte des Westens wird nur ein Teilerfolg sein.

Ein Blick auf Deutschlands gespaltene Gesellschaft drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung

Obwohl der Tag der Deutschen Einheit in der Regel in festlicher Atmosphäre begangen wird, zeigen neue Untersuchungen, dass es dreißig Jahre[iii] nach der Wiedervereinigung bemerkenswerte Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt. Von der gesellschaftlichen Stimmung bis zu den Wirtschaftsdaten zeigen die Ergebnisse ein deprimierendes Bild eines Landes, das in vielerlei Hinsicht noch immer gespalten scheint. „Ich hatte gehofft, dass wir in diesem, dem 30. Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung, weiter sein würden als wir sind“, zeigte sich Marco Wanderwitz, der Bürgerbeauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, bestürzt über die schlechte Entwicklung. Berichten zufolge fühlen sich viele Ostdeutsche immer noch als Bürger zweiter Klasse; vierzig Prozent von ihnen glauben, dass ihr regionaler Hintergrund ihr Leben stärker beeinflusst als das ihrer Kollegen im Westen.

Ostdeutsche verdienen nur 88,8 % des Durchschnittsgehalts ihrer Kollegen im Westen, d. h. auch wenn die Einkommen im Osten gestiegen sind, sind sie immer noch niedriger als im Westen. Ostdeutsche Frauen sind häufiger in Führungspositionen als im Westen, aber viele von ihnen haben mit Kinderbetreuung und Teilzeitbeschäftigung zu kämpfen - was durch die Überbleibsel des staatlichen Kinderbetreuungssystems der DDR oft noch verschlimmert wird. Die Unzufriedenheit bezieht sich auch auf die politische Partizipation, da Ostdeutsche zunehmend zu rechtsextremen Gruppen wie der Alternative für Deutschland (AfD) tendieren und das Vertrauen in politische Institutionen im Osten deutlich geringer ist. Kritiker behaupten, dass die anhaltenden Ungleichheiten nicht nur auf die finanziellen Unterschiede hinweisen, sondern auch auf eine tiefere soziale Kluft, die von extremen Ideen ausgenutzt wird. Das Fortbestehen einer Mentalität als Bürger zweiter Klasse stellt den Erfolg der Wiedervereinigung in Frage und wirft Fragen nach der Effizienz von Integrationsprogrammen auf. Die jüngeren Generationen im Osten tragen noch immer die Last dieses historischen Unterschieds, so dass Deutschland Gefahr läuft, Spaltungen zu verfestigen, die seinen sozialen Zusammenhalt und seine Stabilität in der Zukunft gefährden könnten, wenn diese Probleme nicht ausreichend angegangen werden.

Ungleiche Einigkeit: Der Aufstieg der AfD und das Auseinanderdriften von Ost- und Westdeutschland

Der jüngste Triumph der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) in den östlichen Bundesländern zeigt, dass sich die politische Kluft zwischen dem Osten und dem Westen des Landes vergrößert. Dieses Phänomen scheint im Widerspruch[iv] zu der hoffnungsvollen Ansicht des ehemaligen westdeutschen Bundeskanzlers Willy Brandt zu stehen, dass die Wiedervereinigung Deutschlands die Nation auf natürliche Weise gedeihen lassen würde. Mit großen Erfolgen in Thüringen und dem zweiten Platz in Sachsen ist die AfD fast 35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer zu einer wichtigen Kraft in den neuen Bundesländern geworden. Obwohl sich der Aufstieg der Partei hauptsächlich auf den Osten beschränkt, wo sie den Auftrag zur Regierungsbildung für sich beansprucht, ist sie von einem vergleichbaren Erfolg im Westen noch weit entfernt. Während der Westen gemäßigtere Parteien unterstützt, wirft diese wachsende Kluft die Frage nach den Kernproblemen auf, die die Menschen im Osten zu den Rechtsextremen treiben.

Allein mit demografischen und wirtschaftlichen Erwägungen lässt sich das Erstarken der AfD im Osten nicht hinreichend erklären. Das Gebiet hat in bestimmten Bereichen, einschließlich der wirtschaftlichen Entwicklung, aufgeholt und sogar den Westen überholt, auch wenn es seit der Wiedervereinigung mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten wie erhöhten Arbeitslosenquoten zu kämpfen hat. Bemerkenswerterweise gehören die Gebiete, in denen die AfD am erfolgreichsten ist - Thüringen und Sachsen - zu den Gebieten mit den niedrigsten Zuwanderungsraten in Deutschland, was die Annahme widerlegt, dass Zuwanderung der Hauptfaktor ist, der die Menschen zur AfD treibt. Jüngere Menschen ziehen aus dem Westen in den Osten, so dass die östliche Bevölkerung auch nicht „ausblutet“, wie es unmittelbar nach der Wiedervereinigung der Fall war. Dies deutet darauf hin, dass der Erfolg der Partei auf andere Faktoren als nur eine einwanderungsfeindliche Haltung oder wirtschaftliche Beschwerden zurückzuführen sein könnte.

Komplexere Theorien gibt es von Wissenschaftlern wie der Historikerin Christina Morina und dem Soziologen Steffen Mau, die behaupten, dass das Wachstum der AfD mit einer einzigartigen politischen Identität im Osten zusammenhängt. Mau vertritt die Ansicht, dass die Wahltrends in Ostdeutschland nicht auf einen langsamen Aufholprozess gegenüber dem Westen zurückzuführen sind, sondern auf den Wunsch, eine eigene Identität zum Ausdruck zu bringen. Auch Morina verweist auf das besondere Wissen über die Demokratie, das die Ostdeutschen in 40 Jahren kommunistischer Herrschaft erworben haben. Sie behauptet, dass dieses Wissen der Grund dafür ist, dass es der AfD gelungen ist, frühere Nichtwähler in der Region zu motivieren. Die Partei hat sich ein Narrativ der Ermächtigung zu eigen gemacht, das die Ostdeutschen anspricht, und stellt es den zentristischen Parteien gegenüber, die von ihren eigenen Erfahrungen abgekoppelt scheinen.

Die Popularität der AfD lässt sich jedoch nicht von den dunkleren Aspekten ihres Programms trennen, insbesondere von der Förderung eines eher rassistischen und nationalistischen Standpunkts. Obwohl die Partei sich selbst so darstellt, als würde sie nur ein eigenständiges demokratisches Erbe hochhalten, warnen Kritiker, dass sich hinter ihrer Sprache manchmal ein versteckteres Ziel verbirgt, nämlich die Ostdeutschen als „reinere“ Deutsche darzustellen, weil sie gegen die Vielfalt sind. Um die Wähler der AfD im Osten anzusprechen, bedarf es mehr als konventioneller politischer Taktiken. Um die immer größer werdende politische Kluft zu schließen, unterstützen Mau und Morina innovative Ideen wie Bürgerversammlungen. Ohne solche Initiativen besteht die Gefahr, dass sich Ost und West noch weiter voneinander entfernen und damit die Idee eines vereinten Deutschlands gefährdet wird.

[i] https://studioeuropamaastricht.nl/event/35-years-of-a-unified-germany-in-the-eu-from-iron-curtain-to-integration-challenge/

[ii] https://valdaiclub.com/a/highlights/why-narrative-of-a-unified-germany-is-missing/

[iii] https://www.theguardian.com/world/2020/sep/16/germany-east-west-gaps-persist-30-years-reunification

[iv] https://www.theguardian.com/world/article/2024/sep/01/success-far-right-afd-shows-east-west-germany-drifting-further-apart

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